AMOS LEE: MISSION BELL

Ann Kathrin Bronner: Amos, mit Mission Bell haben Sie gerade Ihr 4. Album veröffentlicht. Wie war die Entwicklung vom ersten Album zur aktuellen Veröffentlichung?

Amos Lee: Nun, Sie wachsen natürlich auch als Mensch. Und dadurch werden auch Ihre Songs beeinflusst, denn sie handeln von Ihrem Leben. Nicht ausschließlich, aber doch von den Menschen, die in Ihr Leben treten und wieder verschwinden – und über die Sie gerne ein Lied schreiben würden. Es geht meiner Meinung nach mehr um die Menschen in Ihrem Leben als darum, wie Sie sich als Mensch verändern.
AKB: Viele Ihrer Songs haben Sie in einer bestimmen Phase Ihres Lebens oder in einer speziellen Stimmung geschrieben. Ist es manchmal nicht etwas seltsam, einen Song zu singen, der in einer depressiven Zeit entstanden ist, wenn Sie vielleicht gerade frisch verliebt sind?
AL: (lacht) Das ist eine großartige Frage. Ich glaube, es geht weniger um meine momentanen Gefühle als um die Verbindung, die wir alle zu diesen Songs haben. Denn natürlich möchte man manches nicht noch einmal durchmachen. Aber wissen Sie, die Menschen wollen diese Songs hören, und ich spiele sie gerne. Ich mache also einfach das, was ich tun muss. Und letztendlich ist es doch positiv, dass ich diese Songs singen kann, denn sie sind Teil meines Lebens.

AKB: Ist es vergleichbar mit einem Schauspieler?

AL: Nein, denn ich denke nicht, dass ich in verschiedene Rollen schlüpfe, um einen Song zu singen. Ich schätze, es ist ein bisschen wie Erinnerungen hervorrufen. Es geht nicht so ins Detail wie bei einem Schauspieler.

AKB: Aber ist es in dem Moment dann überhaupt noch authentisch?

AL: Oh ja, ganz sicher. Wissen Sie, die Gefühle können entstehen, da es ja nicht die Songs von jemand anderem sind. Es sind alles Songs, die ich geschrieben habe, und deshalb ist es immer authentisch. Es geht doch darum, dass ich an jedem Abend versuche, diese Songs so authentisch wie möglich zu singen.

AKB: Ich könnte mir allerdings vorstellen, dass es einfacher ist, einen traurigen Song in einer glücklichen Phase zu singen als umgekehrt.

AL: Vielleicht. Aber ich weiß es einfach zu schätzen, dass ich diese Songs habe, und ich versuche an jedem Abend, mich in ihren Dienst zu stellen.

AKB: Wie ist der kreative Prozess im Studio? Sind Sie dort mit Ihrem Schlagzeuger und Ihrem Bassisten? Mit Studiomusikern? Sind Ihre Gastmusiker dabei? Wie funktioniert das im Studio?

AL: Ich versuche, von meinem Gesang so viel wie möglich live aufzunehmen. Ich liebe es, live zu singen, die Bandsachen live zu machen und das Ganze dann in ein Konzept, eine Idee zusammenzubringen. Wissen Sie, so öffnen Sie sich dem Leben: Sie sitzen in einem Raum mit anderen und versuchen, gegenseitig die Energie des anderen zurückzugeben und auf das, was musikalisch passiert, zu antworten. Und es so offen und so fokussiert wie möglich zu belassen, aber doch so viel wie möglich zu improvisieren.

AKB: Um diese besondere Stimmung zu haben wie live auf der Bühne.

AL: Ja, ich denke, das ist es. Es ist zwar im Studio etwas fokussierter, denn Sie können aufhören und nochmals anfangen. Aber wir versuchen doch, wie bei einem Live-Gig zu spielen, und ich möchte im Studio so viel von der Livemusik wie möglich einfangen, so dass es nicht komplett anders ist. Und nach den Aufnahmen nimmt das Mixen und Mastern einen großen Raum ein. Sie versuchen zwar, alles möglichst natürlich und ungeschönt zu lassen, aber das Mixing ist eine sehr heikle Angelegenheit. Sie versuchen, ein Ambiente für die Musik zu schaffen. Nicht Ton für Ton. Es geht um einen Gesamtklang. Und um eine Stimmung, so dass die Musik Sie so bewegt, dass es nicht mehr darum geht, ob sie jemand extra so gemixt hat. Wissen Sie, Sie wählen jemanden für den Mix, weil Sie eine ähnliche Vision oder ein gemeinsames Ziel haben und weil Sie gleich über Musik denken. Und wenn Sie die Songs dann live spielen, möchten Sie so viel von den guten Sachen der Platte wie möglich aufbieten.

AKB: Wie groß ist denn der Einfluss von Mixing Engineer, Produzenten, Studioatmosphäre?

AL: Sie werden von jedem beeinflusst, mit dem Sie zusammenarbeiten. Ständig. Die Studioatmosphäre wird Sie stets beeinflussen, weil es die Umgebung ist, in die Sie Ihre Songs bringen. Sie wird also immer eine Bedeutung haben. Häufig versuche ich einfach, mit Menschen zu arbeiten, die ich kenne, mit denen ich mich verstehe und die ich mag. Sie haben eine Idee und hoffen, dass die anderen verstehen, was Sie da tun. Dieses Mal kannte ich die Jungs von Calexico und schätze ihre Arbeit; außerdem hatten wir gemeinsame Bekannte. So kam der Kontakt zustande. Es war echt cool, wissen Sie, eine großartige Erfahrung, mit ihnen zu arbeiten. Aber trotz allem versuche ich, jedes Mal mit jemandem zu arbeiten, dessen Sichtweise sich zumindest ein bisschen von meiner unterscheidet. Denn ich finde es nicht gerade spannend, wenn alles gleich klingt. Für mich bedeutet die ultimative Künstler-Produzent-Zusammenarbeit, zwei Menschen zusammenzubringen, die von zwei verschiedenen Standpunkten aus miteinander arbeiten.

AKB:
Ihr erstes Album hatten Sie bereits 2005 veröffentlicht. Aber wann haben Sie entdeckt, dass Sie ein Talent als Singer-Songwriter haben?

AL:
Ich denke, das Songwriting begann mit etwa 18. Und irgendwie bin ich dann da hineingewachsen.

AKB:
Das ist ziemlich spät, oder?

AL: Ja, vergleichsweise schon. Aber es gibt keinen richtigen Zeitpunkt, um so etwas zu machen. Es geht einfach darum, das zu tun, was Sie einfach tun müssen. Und ich hatte ja keine musikalische Vorbildung. Ich war ein ganz normales Kind, das zur Schule ging – und hatte nie daran gedacht, Musik zu machen. Erst als ich älter war. Nach meinem Studium, als ich schon als Lehrer arbeitete, war ich von Musikern umgeben, was mich sehr inspiriert hat. Und ich wollte das auch versuchen und sehen, wie weit ich damit kommen würde. Dem Traum, Musiker und Songwriter zu sein, nachzujagen. Es ging eigentlich immer hauptsächlich darum, dass ich etwas tun wollte, was ich liebe und von dem ich wusste, dass es mich inspiriert.

AKB: Sehen Sie sich selbst denn als Sänger, als Musiker, als Künstler oder als Geschichtenerzähler? Worauf legen Sie den Schwerpunkt?

AL: Das Gute ist ja: Wenn man am Klavier oder an der Gitarre Lieder schreibt, macht man in einer Art und Weise all diese Dinge gleichzeitig. Songwriting vereint wirklich sehr viele unterschiedliche Formen: Es ist sehr sozial und sehr interaktiv. Und es ist auch sehr persönlich, wenn auch zugleich sehr weitreichend. Als Songwriter machen Sie also viele verschiedene Dinge und decken viele Gebiete ab.

AKB: Aber was ist Ihre Hauptintention? Wollen Sie unterhalten? Oder eine politische oder sozialkritische Meinung verkünden? Warum machen Sie das?

AL: Ich glaube nicht, dass es die eine Intention gibt, sondern dass es um das Gesamtbild geht. Ich meine, Sie wollen Ihre Vorstellungen verkünden. Sie wollen sich ausdrücken. Sie möchten sich auch mit den Menschen verbinden. Ich glaube, das sind die beiden Hauptziele: Sich ausdrücken und mit Menschen verbinden.

AKB:
Glauben Sie denn, dass ein Musiker politisch sein sollte?

AL:
Ich finde, ein Musiker sollte über das singen, was er fühlt, was ihn bewegt und was ehrlich ist. Ich finde nicht, dass Sie zwangsläufig etwas anderes sein sollten als das, von dem Sie überzeugt sind, dass Sie es auch sein wollen. Ich freue mich über alles, worüber ein Musiker singt, wenn er daran glaubt. Genau das wünsche ich mir von einem Künstler. Ob er von Liebe singt oder Politik: Wenn er es mir mitteilen möchte, dann möchte ich es hören. Ich möchte Leidenschaft hören und wahre Gefühle.

AKB: Aber ist es nicht auch manches Mal schwierig, all diese intimen Momente in Ihrer Musik auszudrücken? Es ist doch beinahe so, als ob Sie nackt auf der Bühne stehen, wenn Sie all Ihre Emotionen an das Publikum weitergeben.

AL:
Nein, nicht wirklich. Ich meine, das ist nun mal Teil meines Jobs. Wenn Sie als Musiker Songs schreiben, können Sie nicht sagen: „Aber ich erzähle euch nicht, was ich fühle!“ Wissen Sie, darum geht es nun mal. Und ich sehe es so: Wenn es sich so echt anfühlt, dass es in einem Song gehört, ist es auch echt genug, dass ich davon singe.

AKB:
Und was hat Sie für Mission Bell hauptsächlich beeinflusst, so dass Sie davon singen wollten?

AL:
Ich glaube, Mission Bell spiegelt meine Erfahrungen wieder und liefert ein tieferes Verständnis für meine Situation.

AKB: Es ist also eine Art Retrospektive? Die Stimmung ist ja eher depressiv, ruhig, besinnlich. Wie Ihr Charakter?

AL: Wie er zu dem Zeitpunkt war, als ich die Songs geschrieben habe. Denn ich glaube, dass es im Leben jedes Menschen eine Dynamik gibt. Ich glaube nicht, dass Menschen einen bestimmten Charakter haben, gerade dynamische Menschen nicht. Das macht uns ja so interessant.

AKB:
Sie könnten also ebenso gut eine Uptempo-Disco-Nummer machen?

AL:
(lacht) Disco? Ich weiß nicht. Es ist schon eine Weile her, seit ich eine Disco-Nummer gemacht habe.

AKB:
Ich kann mir auch schwer vorstellen, dass das passt… Ihre Karriere hatten Sie als Support von Norah Jones begonnen. Haben Sie einfach bei Ihr angerufen und gesagt: „Hi, ich bin Amos, ich würde gerne Dein Opening Act sein?“ Oder wie war das?

AL:
(lacht) Nicht ganz. Sie kam zu einigen meiner Konzerte und es hat ihr gefallen. Als sie dann wieder auf Tour ging, hat sie nach einem Support gesucht, und so kam das dann zustande. Sie lebte in New York und ich in Philly, aber musikalisch lagen wir ganz nah beieinander und hatten dieselbe Vorstellung.

AKB:
Später haben Sie auch für Bob Dylan, Elvis Costello, Paul Simon Konzerte eröffnet, was für einen jungen Künstler eine unglaubliche Erfahrung sein muss.

AL: Das waren großartige Gigs, und bei einer Show eines Künstlers, den ich schon immer bewundert hatte, dabei zu sein, war eine globale Erfahrung für mich.

AKB: Aber wie können Sie Ihre Ehrlichkeit bewahren und auf dem Boden bleiben, wenn Sie mit solchen Musikerikonen auf Tour gehen?

AL: Nun, ich denke, was diese Szene umgibt sind große Integrität und gute Absichten. Wissen Sie, jeder versucht, jeden Abend seinen Songs zu dienen. Und wenn das das Ziel ist, bleiben Sie auch geerdet. Denn das ist Ihr Job.

AKB:
Ist das auch in Ihrem Charakter verankert: Auf dem Boden zu bleiben?

AL: Wie gerade gesagt, glaube ich, dass man einen Menschen nicht für immer auf einen Charakterzug festlegen sollte. Aber wenn ich Musik mache, fühle ich mich ziemlich auf dem Boden geblieben.

AKB: Auf Mission Bell gibt es eine Coverversion mit Willie Nelson von einem Ihrer Songs. Normalerweise veröffentlicht man einen Song und Monate oder Jahre später wird er von einem anderen Künstler gecovert. Wie kam es in diesem Fall dazu?

AL: Ich bin froh und dankbar, dass Willie sich die Zeit genommen hat, das mit mir zu machen. Es war wirklich großartig! Ich meine, es ist immer toll, seine Stimme zu hören. Und es ist umwerfend zu hören, wie er einen meiner Songs singt. Aber im Grunde handelt es sich um eine Reprise, eine andere Aufnahme des Songs, die ich interessant fand. Eine intimere Version, denn es ist ein wirklich intimes Lied. Und wie Sie wissen, ist Willie eine amerikanische Legende, und ich hatte die Möglichkeit, ihn in einem meiner Songs zu haben. Dafür bin ich einfach dankbar – und daher wollte ich ihn auch mit einbeziehen.

AKB: Finden Sie seine Version von El Camino besser?

AL:
(lacht) Wahrscheinlich ist sie das. Ich denke, das muss ich wohl bejahen…

TOP-TEN 27. Mai
TOP-TEN 29. April