KURT MASUR

Kurt Masur 2011, Foto: Andrew Bronner

Er war Chefdirigent in New York, Paris und London – doch unvergessen bleibt sein Wirken als Nachfolger von Felix Mendelssohn, Wilhelm Furtwängler und Bruno Walter. Kurt Masur ist tot. Zum Gedenken veröffentlichen wir unser Interview aus audiophil 22. Wir trafen Kurt Masur im Jahr 2011 an seiner alten Wirkungsstätte, dem Gewandhaus zu Leipzig.

Mit Leipzig verband Kurt Masur eine ganz besondere Beziehung, prägte er doch das Kulturleben der Stadt fast drei Jahrzehnte.

Ann Kathrin Bronner: Maestro Masur, Sie haben in Leipzig studiert. Fühlen Sie sich der Stadt mehr verbunden, auch weil Sie an den politischen Veränderungen beteiligt waren?

Kurt Masur: Das hatte damit überhaupt nichts zu tun. Ich war als Gewandhauskapellmeister ein geachteter Mann und hatte einfach gehofft, dass meine Stimme Gehör findet. Wir „Leipziger Sechs” haben lediglich versucht einzuwirken, dass alles friedlich abgeht. Das war’s! (Anm. d. Red.: Sechs prominente Leipziger verfassten den Aufruf Keine Gewalt!)

AKB: Meinen Sie, dass das in Ihrer Position als Gewandhauskapellmeister Ihre Pflicht war?

KM: Wieso in meiner Position? Ich bin ein Mensch! Ich bin ein Mensch und kein Funktionär. Ihr Journalisten redet immer von Funktionären oder von Geldfunktionären …

AKB: Dann stelle ich die Frage anders: Glauben Sie, dass jeder Gewandhauskapellmeister an Ihrer Stelle dasselbe getan hätte?

KM: Bei einem würde ich sofort Ja sagen: Felix Mendelssohn. Auf jeden Fall. Der hätte es auch so getan!

AKB: Wie ist das, mit Mendelssohn und Furtwängler in einer historischen Reihe zu stehen? Hat es Sie stolz gemacht, als Sie zum Gewandhauskapellmeister berufen wurden?

KM: Nein, im Gegenteil. Ich habe nur die Bürde der Verpflichtung empfunden und die Verantwortung, die ich damit übernehme. Mit Stolz hatte das nichts zu tun. Stolz kann man erst sein, wenn man etwas erreicht hat.

AKB: Aber das haben Sie doch hier in Leipzig! Sie haben den Bau des neuen Gewandhauses mit vorangetrieben und das Orchester entscheidend geprägt.

KM: Wir haben gemeinsam daran gearbeitet, so gut als möglich zu sein. Meine Information an das Orchester damals war: Das neue Gewandhaus wird erst gebaut, wenn wir so gut sind, dass selbst die anderen das zugeben müssen …

AKB: Aber das war doch ein gutes Ziel!

KM: Ein Ziel zu haben ist für einen Orchesterleiter das Wichtigste. Ein Orchester zu überzeugen, ein Publikum zu überzeugen ist das Entscheidende. Eine Machtposition des Dirigenten? Diese Zeiten sind längst vorbei.

AKB: In Ihrer Generation gab es noch viele Persönlichkeiten unter den Dirigenten. Die Dirigenten, die heute vierzig, fünfzig sind, sind häufig etwas blass und farblos. Wo sind Persönlichkeiten wie Karajan?

KM: Gegenfrage: Wer darf denn heute noch so wachsen? Wir Deutschen neigen sowieso zum Uniformieren der Dinge. Wer zu sehr auffällt, dem wird das vorgeworfen. Wir haben im Augenblick nicht so viel innere Freiheit, da sind wir Deutschen ein bisschen preußisch geblieben, um uns anzupassen. Die verrückten Leute, die auch irritieren, können heute so einfach gar nicht mehr wachsen.

AKB: Können Sie durch Ihre Meisterkurse für junge Dirigenten dem entgegensteuern?

KM: Natürlich. Deswegen mache ich es ja! Man selbst zu sein, das ist das Entscheidende. Man muss wissen, was man will, man muss wissen, was man ist.

AKB: Wussten Sie das von Anfang an?

KM: Was ich sein wollte, wusste ich von Anfang an. Und als ich erfuhr, dass ich aus gesundheitlichen Gründen nicht Organist sein konnte, war das schlimm. Denn der Platz an der Orgel, an der ich gesessen hätte, an der mich kaum jemand entdeckt hätte, wäre eigentlich für mich ideal gewesen.

AKB: Und jetzt stehen Sie ganz vorne … und geben Ihre Erfahrung an junge Dirigenten weiter. Wie sieht es mit dem Nachwuchs aus?

KM: Der wird, glaube ich, bei uns ein bisschen besser. Im Augenblick ist die Altersklasse um die dreißig herum sehr viel versprechend, die sind viel weitergekommen, als es noch vor zehn bis fünfzehn Jahren der Fall war.

AKB: Hat sich denn das Selbstverständnis von Dirigenten in den letzten Jahrzehnten verändert? Und auch das Verhältnis zwischen Dirigent und Orchester?

KM: Na ja, das verändert sich ja laufend. Das Selbstverständnis ist für mein Gefühl in Gefahr. Ich bin noch erzogen worden als Dienender am Werk. Heute sind viele Dirigenten auf großen Erfolg erzogen worden und fragen dann oft gar nicht danach, was der Komponist dazu sagen würde. Ich bin manchmal ein bisschen bestürzt. Wer in meine Kurse kommt, weiß ganz genau, dass er das zu hören bekommt.

AKB: Also geht es um Werktreue?

KM: Es geht um die Wahrhaftigkeit, um die Devotion. Wenn ich nicht erkenne, dass ein Werk größer ist als ich selbst, und anfange, damit herumzuspielen … Ich meine: Jemand, der im Trauermarsch der Eroica lächeln kann, dem kann ich nicht helfen. Es gibt natürlich auch sehr positive Stellen im Trauermarsch, aber die Wiedergabe ist für den Zuhörer, sie muss IHN ergreifen – und soll nicht dem Dirigenten Vergnügen bereiten.

AKB: Das heißt, Starkult und Berühmtsein sind eine Verführung für junge Dirigenten?

Kurt Masur 2011, Foto: Andrew Bronner

KM: Nicht für alle. Es kommt darauf an, wie sie erzogen sind. Ich meine, das ist das, worauf wir – die ältere Generation – achten müssen. Als ich zum ersten Mal eine Bruckner-Sinfonie dirigiert habe, war ich fünfundzwanzig Jahre alt. Bruckners Zweite. Und ich war mächtig stolz, solche Sinfonien dirigieren zu dürfen. Am nächsten Tag traf ich auf der Straße einen Geigenprofessor, der mir sagte: Wissen Sie, ich war gestern in Ihrem Konzert, und es hat mir eigentlich gut gefallen. Aber es hätte mir noch besser gefallen, wenn ich bemerkt hätte, dass Sie Bruckner mehr lieben als sich selbst!

AKB: Wie sind Sie mit dieser Kritik umgegangen?

KM: Ich habe sie bis heute nicht vergessen! Ich wollte immer Dienender sein und hatte gar nicht bemerkt, dass mir meine Eitelkeit einen üblen Streich gespielt hat. Diese Gefahr ist immer da!

AKB: Wer hat Sie eigentlich zu Beginn Ihrer Karriere geprägt?

KM: Die großen Dirigenten der damaligen Zeit. Am meisten, glaube ich, Bruno Walter mit seiner menschlichen Art, das Orchester zu führen. Aber natürlich auch ein Mann wie Furtwängler. Später auch Karajan, den man zwar sehr beschimpft hat, weil er auch ein sehr guter Geschäftsmann war, aber er war schon ein ganz Großer.

AKB: Zu Beginn haben Sie über fünfzehn Jahre nur Oper dirigiert. Was ist eine größere Herausforderung: Ein reines Sinfoniekonzert oder eine Oper, bei der auch Sänger dazukommen?

KM: Das ist nicht das Entscheidende. Die können die Sache höchstens ein bisschen schwieriger oder nicht ganz so zuverlässig machen. (Gelächter) Ein Sinfonieorchester ist natürlich stabiler in seinen Leistungen. Und die zentrale Stelle, die ein Dirigent im Konzert hat, ist schon bedeutender, als wenn er unten im Graben steht.

AKB: Und die Zusammenarbeit mit Regisseuren? Hat das die Sache auch verkompliziert?

KM: Kompliziert ist es immer. Aber wenn man mit einem so großen Regisseur wie Walter Felsenstein zusammenarbeiten
kann, dann gibt es Maßstäbe. Da verbietet es sich von selbst, dass man zufrieden ist mit halben Dingen. Felsenstein hat seinen Partnern alles abgefordert. Bei ihm konnte man nicht ausweichen: Sein Deutsch, seine klare Ausdrucksweise waren für mich eine tägliche Schule.

AKB: Könnten Sie sagen, Ihr Herz hängt mehr an der Sinfonik oder mehr an der Oper?

KM: Nein. Ich bin ein professioneller Musiker, natürlich hängt mein Herz an allen Dingen. Aber Otello bei Felsenstein war für mich jeden Abend ein neues Erlebnis, weil einfach die Inszenierung stimmte. Oder Salome, Das schlaue Füchslein, La Traviata. Das waren Dinge, die sind unvergesslich für mich. Auch weil ich sie mit anderen Regisseuren nicht wiederholen konnte. Denn die Selbstherrlichkeit der Regisseure hat Felsenstein nie gewollt: Er hat nur Dinge gefordert, wenn er sie für richtig hielt. Die Machtposition vieler Regisseure ist ungesund und nicht gut. Wir haben heute immer noch sehr gute Regisseure. Aber es gibt auch eine gewisse  Selbstherrlichkeit bei Regisseuren, die einfach über die Absichten eines Komponisten weit hinausgehen – und das kann ich nicht mehr akzeptieren. Ich habe dann einfach langsam die Finger davon gelassen.

AKB: Meinen Sie, dass diese Selbstherrlichkeit in der heutigen Zeit größer ist als früher?

KM: Na ja, wenn man sich die Dirigentenwahl der Orchester anschaut, dann sind die Orchester auf einen Dirigenten aus, der in der Öffentlichkeit Furore macht. Ganz gleich wie. Ob er jung und hübsch ist, das spielt heute eine Rolle. Es sind andere Merkmale geworden, und wir müssen aufpassen, dass uns nicht die jungen Asiaten etwas vormachen. Weil dort das Wort Devotion, Achtung vor dem Alter, Achtung vor der Leistung des anderen größer sind als das bei uns inzwischen der Fall ist.

AKB: Spiegelt das nicht einfach das normale Leben wider? Hat sich der mangelnde Respekt vor dem Mitmenschen einfach nur auch auf die Musik übertragen?

KM: Das ist eine Frage der Einstellung: Als was fühlt man sich? Wenn man so überheblich ist, dass man meint, man kann mit jedem großen Werk in der Oper machen, was man will, weil man ja da vorne steht … Das erinnert mich an einen fünfzehnjährigen Jungen, der bei mir studieren wollte. Ich fragte: Warum willst du Dirigent werden? Er sagte zu mir: Weil man da vorne steht und das Sagen hat! Da habe ich ihm gesagt: Weißt du was? Geh zur Armee und werde General, da hast du das Sagen. In meinem Bereich bist du völlig falsch!

AKB: Sind Sie etwa der Meinung, dass das Verhältnis zwischen Dirigent und Orchester eine Demokratie ist?

KM: Ganz klar nicht. Eine Demokratie kann es nicht sein: wenn der Dirigent ein Tempo anstimmt, muss das ganze Orchester das akzeptieren und spielen. Das ist nicht demokratisch, sonst könnten die ja alle spielen, was sie wollten.

AKB: Funktioniert das immer?

KM: Natürlich, muss es ja.

AKB: Und funktioniert die zwischenmenschliche Beziehung zwischen Dirigent und Orchester auch immer? Oder hat auch
manchmal die Chemie einfach nicht gestimmt, wenn Sie Gastdirigent waren?

KM: Natürlich passiert das. Es gab zwei Orchester in meiner jungen Zeit, denen ich gesagt habe: Wissen Sie, Sie sind für mich keine Partner. Das tut mir schrecklich leid. Ich werde nicht mehr wiederkommen, weil es für mich keinen Sinn hat, wenn Sie mich nicht mögen. Dann werden Sie mir beweisen, dass Sie ohne mich weiterkommen, und ich werde Ihnen beweisen, dass ich ohne Sie weiterkomme. Das habe ich bei zwei hervorragenden Orchestern gemacht.

AKB: Aber muss man dann auch sich selbst gegenüber so ehrlich sein?

KM: Wissen Sie: Sie wollen dauernd Rezepte haben, aber es gibt keine Rezepte. Die Persönlichkeiten unter den Dirigenten wissen schon, was sie wollen.

AKB: Auch beim Programm? Ich habe ja einige Lieblingskomponisten. Sie auch?

KM: Das können sich die ganzen Amateure leisten, aber ich mir nicht.

AKB: Schlägt Ihr Herz nicht besonders für Mendelssohn? Oder für Schostakowitsch, den Sie vier Mal persönlich getroffen haben?

KM: Sie wollen das so haben, aber das gibt es nicht! Alles, was ich dirigiere, liebe ich gleich. Sonst würde ich nicht da vorne stehen. Ich bin nicht gezwungen, das zu dirigieren, was auf dem Programm steht, sondern habe daran mitgearbeitet. Mein Bekenntnis zu den Komponisten, die ich dirigiere, ist eine Liebesbeziehung, sonst würde ich sie nicht dirigieren.

AKB: Ich habe eben gedacht, dass man einen Komponisten besonders gerne dirigiert.

KM: Nein, nein, meine Liebe. Wie gesagt, das können sich Amateure leisten. Ich hatte einen Mann über mir wohnen, der spielte Flöte und blies immer das Menuett aus der L’Arlésienne-Suite von Bizet. Der hat mich natürlich genervt, denn es war das einzige Stück, das er konnte, also hat er es täglich zwei- bis dreimal gespielt. Ich meine, selbst wenn es sein Lieblingsstück war: MEIN Lieblingsstück war es dann nicht mehr! Aber wissen Sie, was ich an Ihren Fragen am meisten fürchte?

AKB: Nein.

KM: Das Wort „und”. Wir sind noch nicht zu einem Schlusswort gekommen, weil Sie immer noch eine Und-Frage haben. Wir könnten stundenlang weiterdiskutieren: Und was meinen Sie jetzt dazu? Und wie ist denn das? Und wie sehen Sie das? Ich möchte nämlich ein Buch schreiben und nicht nur einen Artikel … Wissen Sie, was ich meine? Und was machen wir jetzt?

AKB: Dann bedanke ich mich jetzt einfach herzlich für das Gespräch!

SIMON RATTLE
MUSIKMESSE 2016