PIERRE BOULEZ

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Pierre Boulez 2005, Foto: Andrew Bronner

Der Franzose Pierre Boulez, der am 5. Januar 2016 verstorben ist, zählte zu den wichtigsten Künstlern des 20. und 21. Jahrhunderts. Im audiophil Interview sprach der Dirigent und Komponist mit uns über seine Verbindung zu Cage und Adorno, über „Unfälle“ in der Musik und über seine Beziehung zur Malerei von Paul Klee, Paul Cézanne und Malewitsch.

Ann Kathrin Bronner: Maestro…

Pierre Boulez: Nein, nein, nennen Sie mich bitte nicht Maestro.

AKB: Wie soll ich dann sagen? Monsieur Boulez?

PB: Voilà!

AKB: Monsieur Boulez, sehen Sie sich selbst als Komponisten oder Dirigenten?

PB: Wenn ich mich nicht selbst überschätze, bin ich zuerst Komponist. Das Dirigieren habe ich nur gelernt, um meine eigenen Stücke und die Stücke meiner Generation zu dirigieren. Allmählich habe ich jedoch verstanden: Wenn ich in diesem Bereich arbeiten will, muss ich unbedingt auch das Repertoire von anderen dirigieren. Man kann nicht nur seine eigenen neuen Werke spielen. Aber für mich ist Dirigieren nur eine Nebensache. Eine Nebensache, die zu wichtig geworden ist. Und deswegen ist mein Hauptproblem, die Zeit zwischen Komponieren und Dirigieren zu teilen.

AKB: Wann haben Sie Ihre erste Komposition geschrieben? Schon als Kind?

PB: Nein, ich war kein Wundekind. Bei den ersten Kompositionen, die aber noch amateurhaft waren, war ich 16, 17 Jahre alt. Die ersten richtigen Kompositionen entstanden, als ich 19 war. Aber ich habe mein Metier ziemlich schnell gelernt. Man kann also sagen, dass sich das innerhalb von zwei Jahren geändert hat. Als ich 18 war, 1943, war ich noch ziemlich am Anfang, 1945 war ich dann schon Profi.

AKB: Und wie war die erste Komposition? War sie auch schon in Richtung Zwölfton-Musik oder serielle Musik?

PB: Es war zuerst eine Art freie Sprache, besonders beeinflusst von Messiaen. Aber mehr modal als wirklich atonal. 1945 habe ich dann die Zwölftonkomponisten entdeckt, Schönberg, Webern, Berg. Das hat mich sehr stark beeinflusst. Aber ich war auch sehr stark beeinflusst durch Strawinsky. Strawinsky wurde damals ziemlich oft gespielt, und seine Musik hat einen großen Eindruck bei mit hinterlassen, besonders seine rhythmische Sprache. Zu derselben Zeit haben wir dann auch Bartók entdeckt.

AKB: Haben Sie die Musik dann im Konzert gehört?

PB: Nein. Als ich Student war, besonders während des Krieges, wurden alle diese Komponisten kaum gespielt. Bartók überhaupt nicht. Schönberg, weil er Jude war, überhaupt nicht. Aber der Grund war nicht nur, dass er Jude war. Dieses Gebiet der Musikkultur wurde in Frankreich einfach vollkommen ignoriert. Auch Berg und Webern. Ich habe dann auf einem einfachen Niveau angefangen, habe Partituren studiert, und so ist meine Sprache immer reicher geworden.

AKB: Viele Leute haben ja Probleme mit atonaler Musik. Meinen Sie, atonale Musik liegt überhaupt in der Natur des Menschen? Oder sind wir nicht vielmehr von Geburt an programmiert auf Dur-Moll oder generell auf Modalität?

PB: In der Tonalität gab es doch eine irrsinnige Entwicklung. Sie können ja nicht die Tonalität von Mozart mit der Tonalität von Wagner vergleichen. Wobei es auch zwischen Monteverdi oder Gesualdo und Wagner manche Ähnlichkeiten gibt, die frappieren sind. In den Madrigalen von Monteverdi wird die Musik jedes Mal, wenn es um Schmerz geht, chromatisch. Und jedes Mal, wenn es um Frieden oder Freude geht, ist es diatonisch. Es gibt über die Jahrhunderte in unserer Wahrnehmung dieselben Gesetze. Ganz einfache Gesetze. Wenn die heutige Musik statisch bleibt, hört man sofort die Tonhöhe, ohne Probleme. Wenn sie dynamisch ist, wenn die Events sich sehr oft und schnell erneuern, dann bekommt man Schwierigkeiten. Man weiß dann nicht so genau, woran man sich orientieren kann. Deswegen ist es interessant, dass diese zwei Konstanten der Wahrnehmung in allen Stilen zu sehen sind. Und aus diesem Grund glaube ich auch nicht, dass Tonalität oder Nicht-Tonalität das Problem ist. Das Problem ist, man muss die Wahrnehmung respektieren und damit spielen.

AKB: Sie haben damals ja recht bald seriell komponiert, anschließend haben Sie sich der Aleatorik zugewandt. Wie würden Sie Ihren Kompositionsstil heute bezeichnen?

PB: Frei, natürlich später organisiert, aber viel freier als früher. Ich habe sehr früh gespürt, dass es zwei Dimensionen gibt, in der Komposition und in der Wahrnehmung im Allgemeinen: ganz strikt oder ziemlich frei. Sehen Sie, in der Barockmusik ist das zum Beispiel der Fall: Wenn Bach ein Vorspiel, ein Präludium, schreibt, dann ist das ziemlich frei. Wenn er eine Fuge oder eine Stretta schreibt, dann ist er gebunden. Und mich interessiert der Unterschied zwischen obligato und frei. Das ist für mich eine ganz wichtige Dimension in der Musik: Freiheit gegen Gesetz.

AKB: Und wie waren Ihre Studien bei Olivier Messiaen?

PB: Sehr interessant. Nicht nur das, er hat mich am Anfang sehr stark beeinflusst. Ich habe bei ihm Harmonielehre studiert, doch außerhalb des Konservatoriums hat er auch Privatunterricht gegeben. Er hat Partituren analysiert, wirklich durchanalysiert. Nach drei, vier Stunden hatte man sie dann wirklich verstanden. Ich erinnere mich an den ersten Unterricht: Er hatte ein Stück von Ravel genommen, „Ma Mère l’Oye“, und hat zuerst die poetische Quelle analysiert. Dann hat er die erste Fassung analysiert, für Klavier zu vier Händen. Sie war für Kinder geschrieben, daher war auch die Technik begrenzt, ganz im Gegensatz zu seinen anderen Stücken, sie sehr virtuos sind. Danach hat er die Orchestrierungen analysiert, die Schritte von der Klavierfassung bis zum Orchesterwerk. Und die Quintessenz dieser Stunde war für mich: Wenn ich eine Partitur analysieren will, das muss ich das auf diese Weise tun! So hat er auch die rhythmische Sprache in „Le Sacre du Printemps“ von Strawinsky analysiert, und hat uns auch Bartók und Berg gezeigt. Oder „Pierrot Lunaire“ von Schönberg.

AKB: Oh, ich liebe „Pierrot Lunaire“.

PB: Sie müssen bedenken, das war 1944/45, am Ende des Krieges. Er war wirklich der einzige, der das gewagt hat. Die anderen Professoren waren viel mehr der Tradition verpflichtet. Was man eben so Tradition nennt. In Wirklichkeit ist es nur einfach Langeweile! (lacht)

AKB: Was bedeutet für Sie Fortschritt, was Tradition?

PB: Tradition … Tradition ist meistens das, was Sie von der vorherigen Periode nehmen. Sie nehmen die Manierismen und nicht wirklich den Inhalt.

AKB: Also eher Epigonentum?

PB: Epigonentum, ja! Fortschritt bedeutet: Sie sehen, was vorher geschrieben war, und überlegen, was Sie aus diesem Stück machen können, damit es weitergeht. Damit es in Ihre Richtung weitergeht. Ein anderer Komponist sieht vielleicht etwas ganz anderes. Und ein großes Meisterstück gibt einen Impuls in verschiedene Richtungen. Ich habe nicht lange Komposition gelehrt. Aber ich hab meinen Studenten immer gesagt: „Es interessiert mich nicht, wenn Sie analysieren und nur einfach beschreiben, was passiert, denn das kann jeder tun. Aber es interessiert mich: Welche Konsequenzen sehen Sie dahinter?“ Die Konsequenzen sind wichtig, und nicht nur buchstabengetreues Analysieren.

AKB: Meinen Sie also, es kann gar nichts komplett Neues geben, sondern alles baut in irgendeiner Weise auf dem Vorangegangenen auf?

PB: Malraux hat gesagt: „Sie werden nicht Maler, nur weil Sie eine Landschaft sehen. Sie werden Maler, wenn Sie Bilder sehen.“ Ein Bild ist wirklich ein Einfluss, eine Landschaft nicht. Es gibt nie etwas spontan. Eine Kultur ist nicht spontan. Sie scheint spontan zu sein, aber ist nicht spontan.

Pierre Boulez & Ann Kathrin Bronner, Salzburg 2005
Pierre Boulez & Ann Kathrin Bronner, Salzburg 2005

AKB: Das heißt, alles, was jetzt als Novität erscheint, hat eine gewisse Vorbereitung und Vorlaufzeit gehabt?

PB: Ja! Es kann überraschen, wenn man die Verbindung nicht sieht. Nehmen wir Schönberg: Man versteht nicht, warum Schönberg plötzlich diesen atonalen Stil gefunden hat. Aber man sieht die Verbindung zu Mahler sehr gut. Und seine eigene Entwicklung hat ihn von der Sprache von Mahler als Konsequenz zur sogenannten atonalen Sprache gebracht. Dasselbe bei Wagner: Wenn man sich Wagner zu Beginn ansieht, war er beeinflusst von der Sprache der Oper seiner Zeit. Allmählich hat er seinen eigenen Weg gefunden, von Gluck, Mozart und Weber zu seiner eigenen Originalsprache. Bei Berlioz sind die Quellen genau dieselben. Aber die Konsequenzen, die Berlioz daraus gezogen hat, sind komplett andere. Deswegen: Die Quellen sind wichtig, aber sie sind nicht alles!

AKB: Was ich bei Ihrem Werk so interessant finde, ist, dass es kaum abgeschlossene Kompositionen gibt, sondern dass es ein ständiges Work-in-Progress ist. Würde es für Sie Stillstand bedeuten, wenn ein Werk abgeschlossen wäre?

PB: Nein! Es gibt Stücke, die für mich fertig sind und die ich nicht mehr antasten werde. Vielleicht werden sie auch eine Quelle für später, das ist möglich. Aber es stimmt, es gibt Stücke, bei denen ich merke: Mit diesem Material kann ich etwas besser machen oder verlängern etc. Seltsamerweise gibt es Prozesse, die für mich fertig sind, und es gibt Prozesse, die immer weiter gehen. Ich kann nicht bewusst sagen: Das ist fertig! Ich spüre es, wenn ich überhaupt nichts mehr damit machen kann. Dann sage ich: Gut, das ist jetzt zu Ende. Und ich spüre auf der anderen Seite, wenn ich Material verbessern kann. Manchmal auch mit Abstand: Mein Stück „Notations“ basiert auf ganz einfachen Stücken von 1945, und jetzt will ich das fertig bringen. Damals habe ich nicht gewusst, wie man damit weiterarbeiten kann. Und nach all dieser Zeit kommt das Material von selbst zu mir.

AKB: Mir fallen dazu zwei Dinge ein: Erstens müssen Ihre Ideen früher wirklich unglaublich gut gewesen sein, wenn so viel Potenzial darin steckt, dass Sie immer weiter daran arbeiten können. Zweitens finde ich, dass es von Größe zeugt zu sagen, dass man das immer noch verbessern kann.

PB: Also, die Ideen waren sehr einfach. Es ist nun mal so: Ideen hat man, wenn man jung ist. Man hat sehr viele Ideen, aber man weiß nicht, wie produktiv sie sein können. Sehen Sie: Ein Stück Holz ist ein Stück Holz. Aber mit einem Stück Holz kann man sehr viel machen. Und deswegen sind Ideen für mich elementares Material. Manchmal glaubt man, dass man in eine bestimmte Richtung gehen wird, doch plötzlich, während Sie daran arbeiten, finden Sie einen ganz anderen Weg. Das ist interessant: gleichzeitig vorgeplant und überraschend. Die Mischung aus Plan und „Unfall“.

AKB: Hat das auch etwas mit der Nachreife zu tun, die bei Adorno eine Rolle spielt?

PB: Ja, sicher. Sehen Sie, das beste Beispiel, das ich finden kann, um das zu erklären: Als Wagner „Das Rheingold“ geschrieben hat, hat er Themen geschrieben, Leitmotive. Und dann, 25 Jahre später, in der „Götterdämmerung“, gibt es manchmal diese Leitmotive aus dem „Rheingold“, die 25 Jahre überhaupt nicht verwendet wurden. Doch plötzlich gibt es diese Auswirkungen, an die er sicher nicht gedacht hat, als er „Rheingold“ komponiert hat. Das ist für mich wirklich ein wichtiges Beispiel: Man hat eine Idee gehabt hat sie eine Zeit ruhen lassen. Und plötzlich kommen sie wieder zum Vorschein … Auf der anderen Seite gibt es Ideen, die sehr attraktiv sind, etwa das Ende von „Die Walküre“. Aber das kommt nie wieder. Es wäre natürlich möglich gewesen, diese Ideen zu überarbeiten, aber das hat er nicht getan. Vielleicht war das für ihn nicht brauchbar. Wagner hat diesen Ring über 25 Jahre komponiert und man sieht die Entwicklung in der Bearbeitung von Leitmotiven. Und bei mir ist es genau dasselbe: Ich habe Ideen gehabt, die ich damals nicht so interessant fand, sondern erst viel später.

AKB: Und gibt es einen Grund, warum Sie wenig oder kaum Klassik und Barock dirigieren? Interessieren Sie die Werke nicht so sehr?

PB: Es interessiert mich natürlich, und ich höre die Musik. Aber es gibt sehr viele Interpreten dafür. Aber bei Schönberg gibt es einen Mangel, bei Webern noch viel mehr. Und auch bei Berg. Und ich finde, wenn ich eine Rolle zu spielen habe, dann diese Rolle!

AKB: An Ihrem Institut IRCAM haben Sie viel mit Computermusik zu tun. Erzählen Sie mir etwas darüber!

PB: Sehen Sie, es ist meine Erfahrung, dass man dem Komponisten keine Zeit gibt, um sich wirklich mit neuen Sachen zu beschäftigen, vor allem mit der neuen Technologie. Aber für mich ist die Technologie ein Teil der musikalischen Kultur – und nicht nur etwas Abseitiges. Für mich ist das Wichtige, dass das Klangmaterial viel größer ist. Es ist natürlich das Spiel Mensch gegen Maschine. Die Maschine kann Klänge produzieren, die die Fähigkeiten des Menschen überschreiten. Aber wir können sie wahrnehmen. Zum Beispiel ganz kleine, ganz unregelmäßige Intervalle. Mit unseren Instrumenten, so, wie sie gebaut sind, können Sie das nicht reproduzieren. Aber mit einem synthetischen Instrument ist das möglich!

AKB: Man kann ja auch die Schwingungsformen ändern, man kann von Sinus in Sägezahn oder Rechteckwelle gehen.

PB: Man kann das Spektrum ändern und so weiter. Exakt! Und ich finde: Wenn diese Mittel existieren, muss man sie unbedingt nutzen. Deswegen ist diese Erweiterung der Klangwelt und auch der rhythmischen Welt für mich sehr wichtig. Das ist eine Bereicherung für die musikalische Sprache!

AKB: Aber unser Ohr ist für viele Dinge gar nicht geschult. Was wäre für Sie das ideale Publikum?

PB: Das ideale Publikum gibt es nie! Ich habe zum Beispiel mein Stück „Répons“ ziemlich oft gespielt, in verschiedenen Städten und verschiedenen Ländern. Und jedes Mal habe ich kein Problem. Aber es ist auch nicht wie in einem normalen Konzertsaal. Die Musiker sind in der Mitte. Das Publikum sitzt darum herum. Und hinter dem Publikum gibt es sechs Solisten. Das Publikum ist dadurch in der Mitte des Klangs. Es ist für mich wichtig, dass man nicht immer diese Trennung Musiker – Publikum hat. Man kann das auch mal mischen. Und die moderne Technologie erlaubt ein Raumkonzept in der Komposition.

AKB: Es gab ja bereits in der Klassik Versuche mit Musikern, die hinter der Bühne oder weiter weg gespielt haben. Diese Zeit-Raum-Komponente. Wobei das ja schon sehr philosophisch wird, wenn man mit Zeit und Raum agiert! Sie sind ja auch als Musikphilosoph tätig. Meinen Sie, dass die Philosophie in den letzten Jahrzehnten etwas zu sehr ausgeklammert wurde aus unserer Gesellschaft?

PB: Der Einfluss der Philosophie ist nicht mehr, wie er früher einmal war. Sehen Sie, wie viele Leute lesen Adorno? Aber es ist wahr, Philosophie ist sehr wichtig. Sie hilft uns natürlich. Ich habe Adorno selbst erlebt, in Darmstadt, und wir haben einmal diskutiert. Über Berg. Er hat gesagt, dass Berg sich nicht geirrt hat. Ich habe gesagt, dass es keine Frage von sich irren oder sich nicht irren ist. Ich sage nur, dass Berg irgendwie besessen von Symmetrie war. In „Lulu“, im Kammerkonzert oder in der lyrischen Suite. Und ich sage, dass das manchmal zur Hauptsache geworden ist. Aber es gibt Momente, wo das nicht sehr gut wirkt. Z. B. im Kammerkonzert im langsamen Satz. Die Themen verlieren so ihre Identität. In der lyrischen Suite und in der Lulu-Filmmusik wirkt es hingegen sehr gut. Das war meine letzte Diskussion mit Adorno.

AKB: Und wie sehen Sie Ihre Rolle als Dirigent?

PB: Ich glaube, dass ein Publikum im Konzert nicht an alle Nebensachen denkt oder ihnen Aufmerksamkeit schenkt. Man möchte etwas wahrnehmen. Und hier kann meiner Meinung nach der Dirigent Einfluss auf ein Werk nehmen. Als ich sehr jung war, hatte ich eine Art labyrinthisches Denken. Mir gefiel die Vorstellung. Aber man muss immer realistisch sein. Und das ist das Problem zwischen Realität und Denken. Das Denken geht immer in Richtung Komplexität, und die Realität wirkt als Korrektiv. Damit komme ich wieder auf Ihre erste Frage zurück, ob ich mich als Dirigent oder Komponist sehe: Der Dirigent korrigiert den Komponisten, aber der Komponist gibt dem Dirigenten Impulse.

AKB: Aber Sie komponieren nicht im Hinblick darauf, ob das realisierbar ist oder nicht?

PB: Nein, zuerst nicht!

AKB: Zum Glück!

PB: Zuerst die Idee ist da. Nur sage ich nicht: Die Realität bringt Grenzen. Ich sage: Die Realität bestimmt, wie ich etwas realisieren kann. Bei „Répons“ gab es Probleme mit der Entfernung und der Technik. Aber ich habe mir überlegt, wie man das realisieren kann. Und das kann ich besser tun, wenn ich die Situation kenne. Das ist dasselbe wie beim Klavier. Ich habe natürlich Klavier gespielt, das war meiner Ausbildung. Auch wenn ich etwas schreibe, was auf dem Klavier sehr schwierig ist, weiß ich, wie ich das arrangieren kann. Bei einem Werk für Violine muss ich immer mit einem Geiger sprechen, ob das wirklich möglich ist, weil ich die praktische Erfahrung nicht habe. Denn erst die praktische Erfahrung gibt mir die Möglichkeit, im Detail weiterzugehen.

AKB: Und dadurch, dass Sie dirigieren, kennen Sie ein Orchester sehr gut.

PB: Ja, und ich kann zwei Dimensionen gleichzeitig verwenden – im Gegensatz zu anderen, die es nicht gewöhnt sind, gleichzeitig unabhängig von beiden Händen Zeichen zu geben.

AKB: Dafür sind Sie ja berühmt!

PB: Ja. Deswegen! Natürlich habe ich zuerst an die Komposition gedacht, aber ich wusste, die Realisierung ist möglich. Wenn ich diese Technik nicht hätte, hätte ich nie gewagt, das zu schreiben. Weil ich gedacht hätte: Ja, wie kann man das realisieren? Aber ich weiß, wie man es realisieren kann. Und deswegen ist das keine Bremse, sondern im Gegenteil ein Antrieb.

AKB: Und wie war Ihr Verhältnis zu John Cage?

PB: Cage habe ich sehr gemocht. Ich habe ihn 1949 kennengelernt, als er zum ersten Mal nach dem Krieg nach Europa gekommen ist. Ich hatte zuvor nur in einem Magazin vom präparierten Klavier gelesen. Er hatte Platten dabei und hat sie mir vorgespielt. Und ich habe sogar das erste Konzert von Cage 1949 organisiert (lacht). Das war ein Privatkonzert. Die Leute waren natürlich sehr neugierig, ich auch. Er ist zwei oder drei Monate in Paris geblieben, und wir haben uns sehr oft gesehen und sehr viel diskutiert. Hinterher sind wir in Kontakt geblieben. Es gibt ziemlich viele Briefe. Dann habe ich ihn in New York getroffen und sogar bei ihm gewohnt. Doch das war ein ganz anderer Cage. Er hatte damals Zen studiert, und seine Ideen waren anders. Kurze Zeit später begann auch die Periode mit den Happenings. Ich habe seine die Ideen manchmal sehr interessant gefunden, nur fand ich die Realisierung ziemlich harmlos.

AKB: Und wie würden Sie 4:33 bezeichnen? Für mich ist das eigentlich fast Stillstand! Natürlich passiert etwas in mir, wenn ich im Publikum sitze, aber ob das unbedingt mit 4:33 zu tun hat, würde ich nicht unbedingt behaupten.

PB: Das ist ein bisschen wie Malewitsch, wie das Quadrat.

AKB: Sie sind ja Kunstkenner, haben auch ein Buch über Klee geschrieben. Holen Sie sich aus Bildern auch Inspiration?

PB: Nicht unbedingt. Ich gehe sicherlich nicht in eine Ausstellung, nur um inspiriert zu werden, aber ich mag Kunst sehr … Wenn ich nicht Musiker geworden wäre, wäre das sicher meine Wahl gewesen. Aber das ist keine Sehnsucht. Ich sage immer: Wenn ich begabt gewesen wäre. Aber ich bin überhaupt nicht begabt.

AKB: Malen Sie?

PB: Nein, das würde ich nicht wagen!

AKB: Gibt es Gemälde von Ihnen? Zeichnungen, die man noch entdecken kann?

PB: Nein, Sie werden überhaupt nicht entdecken. Ich bin nicht begabt, und deswegen habe ich gar nicht damit angefangen.

AKB: Manchmal ist es ja fast angenehmer, wenn man nicht begabt ist, dann kann man Kunst auf eine ganz andere Weise rezipieren.

PB: Ja, genau, genau deswegen ist die Malerei für mich eine Sache, mit der ich mich nicht aktiv beschäftigen werde. Aber ich gehe sehr gerne in Ausstellungen. Gut, hauptsächlich in moderne Ausstellungen. Aber ich habe zum Beispiel auch eine Ausstellung von Cézanne gesehen, und es ist fantastisch, was Sie davon lernen können. Von Klee auch habe ich sehr viel gelernt. Das ist mehr als nur Kompositionsunterricht. Wenn man sieht, wie Menschen auf einem anderen Gebiet dieselben Probleme gelöst haben, die Sie auch haben. Wenn man bei Klee die verschiedenen Perspektiven sieht, denkt man direkt an Heterophonie, das ist genau dasselbe Problem. Das muss man dann nur transponieren.

AKB: Meinen Sie also, die Perspektive ist eins zu eins umsetzbar in Klangdimension?

PB: Es gibt bei Klee zum Beispiel einen Raum mit verschiedenen Perspektiven. Sie sehen den Raum so, einen Raum so, einen Raum so. Und dann nehmen Sie Polyphonie. Sie können die Polyphonie ein bisschen durch die Rhythmik ändern, und so bekommen Sie zwei, drei Perspektiven, mit verschiedenen Rhythmen, verschiedenen Schichten, verschiedenen Ebenen. Es ist dieselbe Tonhöhe, nur koinzidiert das einfach nicht genau. So bekommen Sie verschiedene Perspektiven in einem Go, in einer Richtung. Das habe ich von Klee gelernt!

AKB: Wobei Schopenhauer die Musik auf die oberste Stufe setzt und die Malerei und die Architektur weit darunter. Aber seiner Ansicht nach wirkt ja auch während des Komponierens eine Kraft durch den Komponisten. Es ist folglich gar nicht der Komponist, der komponiert, sondern eine externe Kraft, die durch den Komponisten wirkt. Fühlen Sie sich da nicht etwas zurückgesetzt?

PB: Nein! Ich glaube, alle diese Theorien sind sehr nett, aber sie treffen nicht die Wahrheit. Und was ist das, die Wahrheit? Das Kompositionskonzept von Schönberg war sehr theokratisch. „Ich denke, ich organisiere, und alles ist da sofort.“ Wie Gott sagte: „Es werde Licht“, also ward es! Für mich ist das überhaupt nicht das Konzept. Manchmal habe ich ein sehr allgemeines Konzept, aber manchmal entdecke ich ein eigenes Konzept, ganz allmählich. Ich habe in einer Richtung angefangen, dann kommt das und das, am Ende bin ich vielleicht ganz woanders. Gott sei Dank gibt es Unfälle! Unfälle! Wirklich! Accidents. Ja! Wenn man glaubt, dass man in eine Richtung geht, und dann durch das Material gezwungen ist, in eine andere Richtung weiterzugehen. DAS finde ich interessant!

AKB: Ich kann leider überhaupt nicht komponieren. Ich kann interpretieren, aber mir fällt nichts ein. Wie funktioniert das? Wenn Sie fünf Töne, zwölf Töne, eine Melodie im Kopf haben, wie gehen Sie weiter? Was passiert dann mit Ihnen?

PB: Das ist, wie wenn Sie eine Kurve machen. Und dann sagen Sie sich: Diese Kurve habe ich. Gut, dann mache ich diese … Und dann habe ich diese Kurve verziert. Das stammt auch von Klee: Nehmen Sie einen Spaziergänger. Er geht dahin, und dann geht er dorthin. Aber was passiert, wenn er mit seinem Hund spazieren geht?!?

AKB: Das macht mehr Spaß, glaube ich!

PB: Natürlich (Gelächter). Und bei Klee ist das eine merkwürdige Mischung aus ganz realistischen Sachen, und den Konsequenzen, die er daraus zieht. Das habe ich von ihm gelernt: dass ich etwas sehe, das nichts mit Musik zu tun hat. Das kann Architektur sein, das kann ein Zufall sein. Und dann denke ich: „Das könnte die Quelle für ein Musikstück sein.“ Und besonders, wenn man in einer kreativen Periode ist, kann jede Sache Ihnen eine Idee liefern. Deswegen ich bin überhaupt nicht theokratisch. Ich warte, ich warte. Ich nehme die Realität wahr, denke darüber nach. Und deswegen kann man bei mir auch nicht bestimmte Einflüsse sehen. Ich sehe oder höre etwas Interessantes, denke darüber nach, und dann entwickele ich das weiter.

AKB: Sie machen also auch keine Programmmusik?

PB: Nein!

AKB: Was ist mit Oper?

PB: Ich habe schon zwei Librettisten, also Schriftsteller, getötet. Ich wage es nicht, jetzt mit einem dritten anzufangen! Es ist sehr schade, denn die Arbeit mit Jean Genet war für mich natürlich sehr interessant. Ich habe lange mit ihm gesprochen, und er hat Aufzeichnungen gemacht. Aber das ist zu skizzenhaft. Und dann ist er gestorben … Und mit Heiner Müller ist es genau dasselbe gewesen. Wir haben gesprochen, und ich hatte ganz präzise Ideen über das Verhältnis zwischen Text und Musik. Aber dazu ist es dann auch nicht gekommen.

AKB: Ich hätte mir eine ideale Paarung vorstellen können: Nietzsche und Boulez. Nietzsche hat auch schon gesagt, dass der Weg, den Wagner geht, falsch ist. Sondern dass Text und Musik gemeinsam entstehen müssen. Das wäre also eine ideale Paarung gewesen: Nietzsche und Boulez!

PB: (lacht) Dann wäre ich aber schon lange tot …

HERZTÖNE
SIMON RATTLE